Es werde Licht
Es war eine Stimme, die sich durch absolut gar nicht auszeichnete. Ihr haftete nicht Markantes an. Sie war nicht besonders hoch oder tief. Auch ein Dialekt, der den Besitzer dieser Stimme einer bestimmten Region des Planeten hätte zuordnen können, fehlte völlig. Diese Stimme war nur eins: beliebig. Aber sie würde sie niemals vergessen und sie unter tausend anderen heraushören. Es war die Stimme ihrer schlimmsten Alpträume. Und jetzt wurde sie um vierzehn Jahre zurückkatapultiert.
„Hallo, Katharina. Wie schön, Sie wiederzusehen. Es war mir nach all der Zeit ein Bedürfnis, mich nach Ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Ich bin seit einer Woche wieder auf freiem Fuß und musste mir zunächst eine neue Bleibe suchen. Daher hoffe ich auf Ihr Verständnis, dass sie nicht die erste Priorität hatten. Aber nun bin ich ja da. Wo waren wir damals stehen geblieben? Ah ja, ich erinnere mich: Sie schlugen mit einem Hammer auf mich ein. Und in Anbetracht der Umstände ist es gewiss nicht verwunderlich, dass das Ergebnis Ihrer … Bemühungen mich zu töten, lediglich in drei gebrochenen Rippen, einem zertrümmerten Jochbein, einer Splitterfraktur meiner rechten Hand und der kompletten Zerstörung meines Unterleibes liegt. Aber grämen Sie sich nicht. Ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes gegeben.“
Die Umstände von denen er sprach, lagen im vollständigen Verlust ihres Augenlichts durch seine Hand. Noch heute glaubte sie die Hitze der weißglühenden Klinge in ihrem Gesicht zu spüren. Die Erinnerungen an den Schmerz, als er die Klinge auf ihre Augäpfel drückte, an das Zischen, als die Flüssigkeit darin verdampfte, an ihre eigenen Schreie, waren ihre ständigen Begleiter.
Sein Name war Sergej. Sie hatten sich in einer Bar kennengelernt. Soeben kam sie von einem interstellaren Flug vom Mond zurück, von wo sie 500 Maler, Installateure, Dekorateure und Innenarchitekten abgeholt hatte, nicht ohne auf dem Hinflug weitere 350 Servicemitarbeiter des neu errichteten Hotels „Adlon Luna“ an Bord ihres Raumtaxis gehabt zu haben. Nun wollte sie noch schnell einen Absacker nehmen, um die unangenehmen Wechselwirkungen von Schwerelosigkeit und Erdanziehungskraft zu mindern. Er war höflich, sah gut aus und konnte zuhören. Eine Kombination, die man bei Männern im Allgemeinen so nicht findet. Der Abend nahm seinem Lauf und sie erwog schon einen Quickie vor dem Schlafengehen auf dem Rücksitz ihres Citygleiters, als sie, unkonzentriert von Jetlag und Alkohol, den Kardinalfehler beging und die Toilette aufsuchte, ohne zuvor ihr Glas zu leeren. Die Droge, die er ihr unters Bier mischte, wirkte exakt 30 Minuten nach dem Kontakt mit ihrer Magensäure. Da saßen sie bereits, wie von ihr geplant, auf der Rückbank ihres Fahrzeugs. Als Katharina wieder zu sich kam, befand sie sich, vollständig bekleidet, in einem, ihr unbekannten, Keller. Die Hände waren auf dem Rücken gefesselt und sie lehnte in einer halbsitzenden Position an der Wand. Ihr Kopf war in einer Art, an die Wand montierte, Schraubzwinge fixiert. Der raue Betonboden war eiskalt und unwillkürlich musste sie an ihre letzte Blasenentzündung denken. Sie versuchte sich zu bewegen, erreichte aber nur, dass ein heißer Schmerz von einem ihrer oberen Nackenwirbel, die komplette Wirbelsäule entlang durch den Körper schoss. Die Angst überrollte Katharina wie eine Welle. Sie kämpfte die Panik nieder, und versuchte sich in ihrem Verlies umzusehen, ohne dabei den Kopf zu bewegen. Ihr direkt gegenüber stand ein altmodischer Ohrensessel, davor ein Bunsenbrenner der an eine Campinggaskartusche angeschlossen war. In einer Ecke des Raumes ein unordentlicher Haufen Werkzeug und Putzlumpen.
Die Tür ging auf, Sergej betrat den Raum und nahm in dem Sessel Platz. Das Lächeln, mit welchem er sie während des Abends bedacht hatte, war einem klinisch-experimentellen Interesse gewichen.
„Ich werde Ihnen jetzt erklären, was gleich passieren wird, damit Sie sich vorbereiten können. Sehen Sie, Katharina, ich bin Arzt und Verhaltensforscher und habe noch vor wenigen Wochen im Dienste der Regierung des Planeten Erde gestanden. Ich war Mitglied einer Gruppe von Wissenschaftlern, die den Auftrag hatten, Mittel und Wege zu finden, um unseren Soldaten die rationale Handlungsfähigkeit auch unter extremsten Schmerzen zu erhalten. Nachdem unsere Forschungen an einem Punkt angekommen waren, dem normalerweise die Feldversuche am lebenden Objekt folgen müssten, bekamen wir nur die Genehmigung für Computersimulationen. Da ich ein ernstzunehmender Wissenschaftler bin und kein pickeliger Computerfreak, habe ich mich natürlich gegen diese Maßnahme ausgesprochen und Versuche an Freiwilligen beantragt. Vergebens. Auch eine wohl argumentierte Eingabe beim planetaren Verteidigungsministerium hatte nicht den gewünschten Erfolg. Im Gegenteil: Ich wurde mit sofortiger Wirkung von meinen Aufgaben entbunden. Ich frage Sie, Katharina, wie soll man unter diesen Bedingungen arbeiten? Am Ende stellte sich heraus, dass es nicht möglich war eine aussagekräftige Computersimulation zu programmieren und das Projekt wurde eingestellt. Ich jedoch habe ein Medikament entwickelt, welches das Schmerzempfinden für 24 Stunden vollständig neutralisiert. Somit sollte es dem Kämpfenden möglich sein, sich nach einer Verletzung mit einem handelsüblichen Inhalator, wie ihn Asthmatiker verwenden, das Medikament über die Atemwege zuzuführen. Bereits zwei Minuten später setzt die Wirkung ein, nach fünf Minuten ist der Verletzte komplett schmerzfrei und in der Lage seine Mission fort- und zu einem Erfolg zu führen.“ Hier machte er eine Pause und holte aus seinen Hosentaschen ein billiges Einwegfeuerzeug und ein Schweizer Armeemesser hervor, das Messer legte er neben dem Bunsenbrenner ab. Dann öffnete er mit der einen Hand das Ventil an der Gaskartusche und hielt mit der anderen das brennende Feuerzeug an den Brenner. Mit einem trockenen „Wouf“ entzündete sich das Gas. Während er das Messer aufklappte und die große Klinge arretierte sprach er weiter: „ Ich werde jetzt diese Klinge sehr stark erhitzen und Sie dann blenden. Hierbei werden Sie nicht nur unsagbaren körperlichen Schmerzen ausgesetzt sein, nein, es kommt auch noch eine stark belastende, psychische Komponente hinzu. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass sich 95 Prozent der Bevölkerung nichts Schlimmeres vorstellen kann, als den totalen Verlust ihrer Sehkraft. Ich jedoch neige dazu, zu behaupten, dass das Schlimmste was einem Menschen kann, der Verlust des Gehörs ist. Sie können, ohne sich zu bewegen die kompletten 360° akustisch wahrnehmen, jedoch bei gleicher Unbeweglichkeit nur ca. 180° optisch. Ich erzähle Ihnen das, weil ich Ihnen die psychischen Qualen ersparen möchte. Damit gebe ich Ihnen die Möglichkeit, sich nur auf die physischen Schmerzen konzentrieren zu müssen.“ Er griff in die Brusttasche seines Hemdes und hielt gleich darauf einen Inhalator in der Hand. „Hier ist das Medikament. Dieses werde ich jetzt in Ihre Hosentasche stecken. Sobald ich sicher bin, dass Sie nichts mehr sehen, werde ich Ihnen die Fesseln abnehmen. Sie werden dann den Inhalator aus der Tasche holen und das Aerosol einatmen. Ich werde mit einer Stoppuhr ermitteln, wie lange das Medikament tatsächlich braucht, um Sie von den Schmerzen zu befreien. Wenn Sie zwei Hübe inhalieren, werden Sie nach spätestens fünf Minuten wieder voll handlungsfähig sein. Ich bitte Sie, dies alles nicht persönlich zu nehmen, aber Sie sind in der Tat sehr dicht an meiner Vorstellung von einer idealen Testperson. Sie waren sechs Jahre Mitglied eines Elitekommandos von Fallschirmjägern im Thermosphärenbereich und es gewohnt Ihren Körper dabei extremen Bedingungen auszusetzen. Und auch nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst haben Sie sich keinen ruhigen Verwaltungsjob gesucht, sondern kommandieren ein Galaxientaxi, das eine Transportkapazität von 750 Personen hat. Ein verantwortungsvoller Beruf, bei dem Sie keinerlei Ablenkung gebrauchen können. Selbstverständlich werden Sie für Ihre, aus diesem Versuch resultierende, Berufsunfähigkeit angemessen entschädigt. Sie werden nie wieder Geldsorgen haben. Im Gegenzug müssen Sie nur auf Ihre Sehkraft verzichten. Aber wie unwichtig die ist, im Vergleich zu Ihrem Gehör, habe ich Ihnen ja gerade dargelegt.“
Sergej zog die Klinge aus der Flamme, und ging vor Katharina in die Knie. Bis zu diesem Moment hatte sie ihm im stummen Entsetzen zugehört. Nun aber belegte sie ihn mit allen Beschimpfungen und Flüchen, die ihr einfielen. Ungeachtet der Schmerzen in der Wirbelsäule versuchte sie verzweifelt, den Kopf aus der Klammer zu befreien. Sergej setzte sich kurzerhand auf ihre Beine und schränkte ihre ohnehin knappe Bewegungsfreiheit damit noch weiter ein. Er sprach kein Wort mehr, sondern konzentrierte sich darauf, mit der linken Hand Katharinas linkes Augenlid zu öffnen. Dann führte er die rechte Hand mit dem Messer an das gewaltsam geöffnete Auge. Ihre Schreie hallten von den kahlen Wänden wieder.
Sie sammelte sich, kehrte zurück in die Gegenwart und konzentrierte sich wieder auf seine Stimme. „Darf ich hereinkommen, Katharina?“ Ihr Schritt seitwärts zurück in den Flur, um den Weg freizugeben, war reiner Reflex. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und bot ihm einen Platz auf dem Sofa an. „Sie sehen gut aus, Katharina. Offensichtlich haben Sie sich besser erholt in den letzten Jahren als ich. Aber die medizinische Versorgung in den Gefängnissen dieses Planeten hat sich seit der Erfindung des Antibiotikas nicht wesentlich weiterentwickelt. Sie hingegen haben ganz offenbar die beste Betreuung bekommen, die verfügbar war. Ich empfinde das als etwas ungerecht. Mein Medikament gehört mittlerweile zur Standardausrüstung eines jeden Soldaten. Ich hatte recht und habe es an Ihnen bewiesen. Und doch hatten diese Kretins nichts Besseres zu tun, als mich wie einen gewöhnlichen Kriminellen wegzusperren. Keine Anerkennung, keine Dankbarkeit, nichts. Ich bin hier, um Wiedergutmachung zu fordern. Indem ich Sie von Ihren Schmerzen befreit habe, habe ich Sie in die Lage versetzt, rational zu handeln und Ihre Augen medizinisch versorgen zu lassen. Stattdessen haben Sie sich einen alten Hammer aus der Kellerecke geholt und mich in einen nutzlosen Krüppel verwandelt.“
Eine tiefe Ruhe breitete sich in Katharina aus. „Aber ich habe meine Augen doch medizinisch versorgen lassen.“ Sie lächelte Sergej an und nahm die schwarze Sonnenbrille ab. Er blickte in zwei wunderschöne grüne Augen mit bernsteinfarbenen Rändern um die Iris. Vollkommen fassungslos starrte er sie an. Es waren diese Augen, die ihn damals in der Bar beinahe von seinem Vorhaben abgebracht hätten. Wäre Katharina damals nicht für ein paar Minuten vom Tisch aufgestanden, hätte er sich wohl nicht von diesem hypnotischen Zauber ihrer Augen befreien können. Aber heute hatten diese Augen etwas seltsam Lebloses, als würden sie ihn durchleuchten. Er stand auf und trat zu ihr, den Blick unentwegt auf die Pupillen gerichtet.
„Darum trage ich diese dunkle Brille. Die meisten Menschen reagieren mit der gleichen Verwirrung wie Sie. Es sind Kameras, die über die Gehirnströme gesteuert werden. Es hat mich einige Mühe gekostet, bis ich die vollkommene Kontrolle über diese kleinen Wunderwerke hatte. Aber jetzt ist es perfekt. Wer braucht schon richtige Augen, wenn so etwas möglich ist. Vermutlich bin ich Ihnen tatsächlich etwas schuldig. Ich denke, wir können das gleich hier regeln.“
Sie ging quer durch das Wohnzimmer zu einem gerahmten Van-Gough-Druck und klappte ihn zu Seite. Dahinter, ganz klassisch, war ein Tresor in die Wand eingelassen. Sie zog eine Kette aus ihrer Bluse, an der ein kleiner Schlüssel hing und schloss die Tür auf. Mit beiden Händen griff sie in den Safe, dicke Bündel Geldscheine kamen zum Vorschein und wurden auf dem Wohnzimmertisch gestapelt. Sergej konnte den Blick nicht von dem Geld vor ihm auf dem Tisch lösen.
„Wissen Sie, Sergej, wenn man erlebt hat, was Sie mir angetan haben, hat man keine Angst mehr. Vor Niemandem. Vor keiner Situation. Nach meiner Genesung habe ich mich zum offiziell registrierten Personenschützer ausbilden lassen. Ein lukratives Gewerbe für die, die überleben. Und das Beste ist, man hat die Wahl der Waffen. Tatsächlich kommt man an Pistolen, Gewehre und Messer ran, die immer auf dem neuesten Stand der Technik sind. So wie diese hier.“
Sergej hatte nur mit einem Ohr zugehört. Er versuchte den Betrag zu schätzen, der da vor ihm aufgebaut war, aber jetzt veranlasste etwas Kaltes, etwas Klirrendes in ihrer Stimme, dass er den Kopf hob und sie über den Berg von sauber gebündelten Banknoten hinweg ansah. Er blickte in die Mündung einer Pistole, die durch ihren ungewöhnlich voluminösen Lauf auffiel.
„Das ist das Allerneuste. Kaliber zehn mm, mit eingebautem Schall- und Mündungsfeuerdämpfer. Stanzt faustgroße Löcher schon beim Eintritt in den Körper. Wenn die Kugel auf der anderen Seite herauskommt, ist da im Normalfall nichts mehr, was man noch zusammenflicken könnte. Und dabei so leise wie ein Windhauch. Wenn ich Ihnen das mal eben demonstrieren darf?“
Das letzte was Sergej sah, waren diese unfassbar grünen Augen und ein leichtes Aufbäumen der Waffe in Katharinas Händen.
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