Im Gedränge

Unlängst weilte ich nach längerer Zeit endlich mal wieder in Krefeld. Ich habe dort meinen Kumpel Osbert besucht. Osbert ist ein Bremer, der vor vielen, verdammt vielen Jahren, zu einer Zeit als die Erde vielen Menschen noch als eine Scheibe galt, aus beruflichen Gründen ein Leben in der Diaspora wählte und der seitdem ein karges Dasein im Rein-Ruhr-Gebiet fristet, aufgehellt nur durch die Besuche seiner selbstlosen Freunde aus Bremen.

Osbert zu besuchen ist immer wie ein kleiner Urlaub. Ein Männerwochenende, das geprägt ist von keineswegs unserem Alter entsprechenden Blödeleien, ernsten Gesprächen über Gott und die Welt und Mahlzeiten, die eher an heidnisch-sakrale Riten erinnern, huldigen wir doch in verachtenswerter Weise dem Gott Cholesterin und verspotten Veganer und Vegetarier. Jedenfalls früher… Heute trinkt Oliver Ingwer-Tee und ich habe gelernt, mich mit seiner laktosefreien Milch in meinem Kaffee zu arrangieren. Was nicht bedeutet, dass wir nicht mehr über Löwenzahnschnitzel-Griller und Mastschwein-Umarmer spotten, aber unser bevorzugtes Brot ist nicht mehr aus Weizen-, sondern aus Emmer- oder Dinkelmehl. Wir werden ja auch nicht jünger. Aber das mit dem Bier und den Burgern klappt noch.

Ich war also in Krefeld und Osbert schlug vor ins Kaiser-Wilhelm-Museum zu gehen und anlässlich der Wiedereröffnung nach einer langjährigen Runderneuerung, eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst nach 1945 anzusehen. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt: Das Museum war moderat frequentiert und man konnte gut die Exponate in seinem eigenen Tempo betrachten, ohne dass man das Gefühl hatte, allein auf weiter Flur zu sein. Das Schöne an zeitgenössischer Kunst ist, dass man ungestraft alles Mögliche und Unmögliche hineininterpretieren und/oder herauslesen darf. Auch die Frage „Ist das Kunst oder kann das weg?“ ist nicht immer ganz falsch, denn einige der ausgestellten Ergebnisse kreativ-soziopathischer Cerebralmutationen standen in verdächtiger Nähe zu Gebilden, von denen man nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, dass es keine Papierkörbe waren.

Es stellte sich heraus, dass Osbert und ich nicht nur ein ganz unterschiedliches Tempo an den Tag legten, auch unser Präferenzen vor einigen Kunstwerken zu verweilen, war durchaus differierend.  Es begab sicher aber nach einiger Zeit, dass ich mich allein in einem Raum wiederfand, dessen Wände behangen waren mit Bildern. In einer Ausstellung gewiss nichts Ungewöhnliches, diese Bilder jedoch interessierten mich und ich genoss es, sie allein und in Ruhe betrachten zu können. Nun ist das mit dem Alleinsein in einem Museum ja so eine Sache. Selbst wenn keine anderen Besucher in der Nähe sind, gibt es da ja immer noch die allgegenwärtigen, dabei aber unauffällig im Hintergrund lauernden Aufseher. Männer in dunklen Anzügen und einer Mimik, die in ihrer Ausstrahlung auch jeder noch so ländlichen Trauerfeier einen staatstragenden Hauch verliehen hätten.

So stand ich also vor einem dieser Bilder in einem Abstand von mehr als einem Meter und somit außerstande das Bild zufällig oder absichtlich zu berühren. Über dem Arm meine neue Outdoorjacke mit der Wolfstatze. In blau (die rot-schwarze habe ich eine Kleiderspende gegeben, zu der meine Kirchengemeinde aufgerufen hat, somit kann ich mich all den anderen Ü50-jährigen wieder in arrogantester Weise überlegen fühlen, die immer noch in ihren rot-schwarzen Rentneruniformen die Deiche bevölkern)! Auch in diesem Raum befand sich ein Exemplar dieser, von ihrer eigenen Wichtigkeit durchdrungenen, Flurhüter. Im Gegensatz zu seinen Kollegen jedoch zeigte dieser auffällige Anzeichen von Leben. Denn er trat an mich heran, richtete das Wort mich und hieß mich, meine Jacke an der Garderobe abzugeben, bzw. diese in einem Schließfach zu deponieren. An dieser Stelle sei erwähnt, dass wir beim Erwerb der Eintrittskarten nicht auf das Vorhandensein solcher Möglichkeiten hingewiesen wurden. Aber vielleicht setzt man bei einem Museumsbesucher dergleichen Kenntnis voraus? Ich fragte also den Wächter über die Sittsamkeit der Besucher nach dem Warum und wer fragt, muss damit rechnen, dass ihm Antwort zuteil wird.  Der Anzug- und Schlipsträger lächelte mokant, als wäre die Antwort so offensichtlich, dass meine Frage absolut obsolet sei: „Damit Sie im Gedränge mit Ihrer Jacke nicht das Bild von der Wand reißen.“ Ich schaute mich um. Noch immer waren wir beide nicht nur allein im Raum, auch hörte ich nicht mal Schritte, die darauf schließen ließen, dass andere Besucher Kurs auf diesen Raum nahmen.

„Welches Gedränge?“

„Sie könnten in einen Raum kommen, in dem bereits andere Besucher sind und dann könnten sie…“ Er schwieg, denn ich gab ihm DEN BLICK.

Kennen Sie diese Technik mit der man wildfremde Menschen daran hindert, einen anzusprechen? Ich habe diese Technik perfektioniert, als ich beruflich noch sehr häufig in der Bremer Innenstadt unterwegs war. Da lungerten immer irgendwelche studentischen Hilfskräfte rum, um gezielt bestimmte Personen anzusprechen, die in ihr aktuelles Beuteschema passten, um diese zu irgendwelchen völlig unwichtigen Themen anonym zu befragen. Ich habe mich einmal auf so eine Befragung eingelassen, weil ich es witzig fand und die Befragung nur fünf Minuten dauern sollte. Nach 30 Minuten wünschte ich mir Thrombosestrümpfe. Danach begann ich DEN BLICK zu üben.

Ich fragte also meinerseits den Wärter, womit ich die Bilder denn sonst von der Wand reißen sollte, wenn nicht mit meiner Jacke. Schließlich wollte ich ja keine Fingerabdrücke hinterlassen. Er starrte mich an, seine Lippen bewegten sich tonlos und nun war es an mir ihn mit einem Lächeln zu bedenken, von dem ich hoffte es war sardonisch.

Für die restliche Zeit in der Ausstellung hatte ich in dem Aufseher einen treuen Schatten.  Schön, wie hier auf persönliche Betreuung Wert gelegt wird.