Der Graben
Er erwachte von einem lauten Klatschen. Von einem mächtig lauten Klatschen. Das sich anschließende Blubbern und Schmatzen war nur ein paar Meter von seinem Kopf entfernt zu hören. Also war wohl irgendetwas in den Graben gefallen. Der Graben durchzog das Kleingartengebiet der Länge nach und trennte diese Gärten von der Rückseite der hinteren Reihe Parzellen. Vielleicht eine Katze oder vermutlich doch eher ein Reh, eine Katze würde nicht so einen Lärm verursachen. Manchmal verirrten sich Rehe aus dem nahe gelegenen Park in dieses Parzellengebiet. Außerdem war ein Reh ja viel größer und würde darum schwerer auf die Wasseroberfläche schlagen. Allerdings würde ein Reh jetzt immer noch Krach machen, denn es würde sehr wahrscheinlich in Panik sein und strampeln. Aber jetzt war alles wieder still. Er lag in seinem Bett und lauschte. Atemgeräusche? Irgendwas. Oder irgendwer? Ihn beschlich ein Verdacht. Ohnehin hatte er schlecht geschlafen; es war stickig und warm in dem kleinen Anbau der Gartenlaube in welchem das Etagenbett stand und in dem er und seine fast sieben Jahre jüngere Schwester schliefen. Obendrein war Vollmond, da war es egal wie warm oder wie kalt es war. Schlecht schlafen war dann sowieso Programm.
Er erwog einfach liegenzubleiben und alles dem Schicksal zu überlassen. Vielleicht war es ja Vorsehung. Und wenn es eine Prüfung für ihn war? Was, wenn das Schicksal oder Gott, wer oder was auch immer, ihn prüfen wollte? Wenn sein Tun oder Lassen in dieser Situation über seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte? Er sprang aus der unteren Koje. Ein kurzer Blick ins obere Bett zu seiner Schwester; die schlief tief und fest, ihren Stoffhasen im Arm. Nur mit einer kurzbeinigen Schlafanzughose bekleidet, ging er in den vorderen Teil des Parzellenhauses und warf einen Blick auf das Bett seiner Eltern. Leer. Dass seine Mutter nicht da war, erklärte sich. Die war an diesem Wochenende mit einem Rudel anderer Frauen wie jedes Jahr im Spätsommer irgendwo an der Mosel unterwegs. Eines der wenigen Vergnügen, die sie sich gönnte, und auf das sie das ganze Jahr sparte. Allerdings war auch sein Vater nicht da, was seiner Befürchtung Nahrung gab. Er öffnete die Tür und trat hinaus in den Garten. Im hellen Mondlicht konnte er alles gut erkennen. Für einen Moment stand er still, sah hinauf zu der komplett runden, tiefhängenden bleichen Scheibe, deren Anordnung von Kratern, Bergen und Tälern ihn auch jetzt wieder an ein entstelltes, verquollenes Gesicht erinnerten. Mit einem Seufzen löste er sich aus seiner Starre und ging um das Haus herum. Neben dem Anbau, ungefähr auf Höhe des Etagenbettes blieb er stehen und versuchte in den Graben zu peilen. Zu sehen war von hier aus nichts aber ein undeutliches Grummeln und Lamentieren, welches er nur zu gut kannte, bestätigte seinen Verdacht. Er trat auf die kurze aber breite, aus diversen alten Brettern zusammen genagelte Brücke, die über den Graben auf das Grundstück schräg rechts hinter dem ihren führte. Bis vor drei Stunden hatten sie dort bei den Nachbarn zusammengesessen und gegrillt, bis er zuerst seine Schwester schlafen gelegt hatte, um dann selber eine Stunde später, ins Bett zu gehen. Ihr Vater war noch geblieben, das war ja auch ganz in Ordnung. Aber wieder einmal hatte er viel zu viel Alkohol getrunken, tatkräftig unterstützt vom Nachbarn, der ebenfalls nicht aufhören mochte, bis Schnapsflasche und Bierkiste geleert waren. Nun stand er hier auf dem Steg, der ganz offensichtlich nicht breit genug für seinen sturzbetrunkenen Vater war. Er schaute hinab in den Graben. Trotz des sehr warmen Sommers führte der Graben noch erstaunlich viel Wasser. Erst vor ein paar Tagen stand er in dem Graben und stocherte nach seinem Taschenmesser, das ihm in einem unachtsamen Moment aus der Hand gerutscht und in den Morast gefallen war. Das Wasser selbst wäre ihm nur bis an die Knie gegangen, aber der Grund war so weich, dass er bis an die Hüfte eingesunken war. Er sah seinem Vater zu, wie er allmählich wieder zu sich kam und versuchte sich aufzurappeln.
Und plötzlich sah er es glasklar vor sich. Ganz einfach würde es sein und niemand würde ihm etwas nachweisen können. Wie schwer mochte es sein, den Kopf eines notorischen Trinkers unter Wasser zu drücken und dort zu halten, bis keine Luftbläschen mehr aufstiegen? Der Morast und das brackige Wasser würden alle Spuren verwischen. Würde der Nachbar, auch betrunken, etwas mitbekommen? Es würde sich gewiss nicht leise durchziehen lassen. Der Alte würde wild um sich schlagen, angetrieben von dem Urinstinkt des Überlebens. Aber es würde funktionieren. Er würde von oben nach unten arbeiten und dieses versoffene Drecksschwein würde in dem Graben keinen Halt finden. Nur ein paar Minuten wirklich mutig sein. Wie oft war er ausgelacht worden, von dieser schlammverschmierten, elenden Kreatur, die sich ihm da zu Füßen wand? Nie wieder würde er ihn einen Versager nennen, wenn er mit einer schlechten Zensur aus der Schule kam. Nur ein paar Minuten und dann müsste er nie wieder Angst haben. In wie vielen Nächten, in wie vielen Tagträumen hatte er sich Möglichkeiten überlegt die Familie von diesem Joch zu befreien? Wie oft hatte er seine Mutter beschworen mit ihm und seiner Schwester davonzugehen, und dieses miese Schwein sich selbst zu überlassen? Und jetzt mitten in der Nacht, vollkommen unverhofft, bot sich ihm die perfekte Gelegenheit. Nur ein paar Minuten und dann würde er seinen armen Vater am Morgen finden. Man würde jede Menge Alkohol in seinem Blut und jede Menge Grabenwasser in seinen Lungen finden. Alle Freunde, Nachbarn, Bekannten und Verwandten wussten, dass er schon seit Jahren an der Flasche hing. Es würde keine große Untersuchung geben. Ein Unfall. Eine Zahl in der Statistik für Tod durch Alkoholmissbrauch. Und dass der bedauernswerte Sohn seinen Vater so finden musste. Der arme Junge. Nicht der leiseste Hauch eines Verdachts würde auf ihn fallen, niemand müsste es erfahren. Nicht seine Mutter, niemand. Seine siebenjährige Schwester hing noch an ihrem Vater, aber die war ja auch noch klein und wusste es nicht besser. Und selbst wenn der Nachbar aus seinem Rausch erwachte und aus seiner Bude kam, könnte er dann immer noch dazu übergehen dieses fette, besoffene Schwein aus dem Graben zu ziehen. Es war berauschend in seiner Klarheit, Leichtigkeit und Genialität.
Eine Welle lang unterdrückten Hasses schlug über im zusammen und machte ihn für einen Moment benommen. Blutrote Schleier trübten seinen Blick. Für ein paar Sekunden stand er ganz still und horchte tief in sich hinein; die Fäuste geballt. Dann traf er seine Entscheidung.
Er stieg von der Brücke hinab auf die kurze Böschung des Grabens, beugte sich hinab zu diesem überdimensionalen, nach Bier und Fusel stinkenden Haufen Schlamm und streckte seinem Vater die Hand entgegen. Zentimeter für Zentimeter zog er ihn aus dem Wasser. Wohl wissend, dass er diese Tat vermutlich für den Rest seines Lebens, wenn nicht bereuen, so doch zumindest voller Zweifel hinterfragen würde.
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