Ich bin entspannt

Wer sich schon einmal einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme unterzogen hat, kennt das Prozedere der Aufnahmeuntersuchungen. Zum einen der ärztliche Check, zum anderen das Aufnahmegespräch mit dem oder der Bezugstherapeuten -therapeutin. In diesem Gespräch geht es natürlich um die Feststellung der aktuellen psychischen Verfassung und um die Ermittlung der geeigneten Anwendungen, wie z.B. Gesprächstherapien, Atem-Bio-Feedback oder auch Autogenes Training.

Das Angebot des autogenen Trainings nahm ich sehr gerne an, das kannte ich schon, da fühlte ich mich sicher, wende ich AT doch seit vielen Jahren recht erfolgreich an, wenn mir gerade mal etwas quer kommt und ich mich zurückziehen muss. Trotz meiner Vorkenntnisse wurde ich einer Anfängergruppe zugeteilt.

Zur Einführung in die Disziplin des Autogenen Trainings fand ich mich nicht nur pünktlich, sondern auch in bequemer Kleidung ein, denn es ist deutlich komfortabler sich in einer gemütlichen Jogginghose auf den Boden zu legen, als in einer sperrigen Jeans. Ich betrat den Raum, stutzte und verließ denselben wieder, um zu überprüfen ob die Raumnummer auf meinem Behandlungsplan mit der Nummer an der Tür übereinstimmte; sie stimmten überein, leider, denn: keine bequemen Matten, sondern ein ungemütlicher Stuhlkreis erwartete mich. Beinahe alle Plätze waren bereits belegt und auch der Therapeut war schon da, begrüßte mich und ließ mich großmütig wissen, dass ich zwar pünktlich, aber trotzdem der letzte noch fehlende Teilnehmer war. Er bat mich die Tür zu schließen, damit wir endlich anfangen könnten. Ja, Herr!

Ich suchte mir einen Platz schräg links von unserem Entspannungs-Guru und harrte der Dinge, die kommen würden.

Während seines fünfminütigen, recht gelangweilt dargebrachten, Vortrags über das Wesen, die Absichten und Ziele des Autogenen Trainings hatte ich ausreichend Zeit unseren Gruppenleiter in Augenschein zu nehmen. Das laut und vernehmlich nach Kamm, Schere und Shampoo bettelnde Haar fiel ihm in grauen Strähnen über die Schultern und in Richtung Augen, wo es jedoch von den spoilerartig gewachsenen, ebenfalls grauen Augenbrauen daran gehindert wurde, diese zur Gänze zu bedecken. Das Gesicht, wie der ganze Mann, war hager. Die Nase sprang dem Betrachter, einen Raubvogelschnabel imitierend, entgegen, die Haut grau-braun und gegerbt von übermäßigen Sonnenbädern. Welche Farbe die Augen hatten war nicht zu erkennen, da diese während des gesamten Vortrages über geschlossen waren. Insgesamt eine wenig Vertrauen erweckende Person, dessen Stimme jedoch in krassem Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung stand. Sein angenehmer Bariton, der bei einigen der anwesenden Damen sichtbar für verzückte Irritationen sorgte, informierte uns darüber, dass wir an der Rezeption für € 2,00 die CD mit den Formeln zum Autogenen Training erwerben könnten, übrigens von ihm höchstselbst besprochen.

Noch Fragen? Ja, eine wagemutige Sächsin, Hildegard wenn ich mich recht entsinne, hatte mal in ihrem Heimatort einen Kurs in AT belegt und dort hätten sie dabei auf bequemen Matten gelegen. Aha, es lag also nicht an mir. Aber so konnte man dem, sich selbst Inszenierenden nicht kommen. Erstens sei das keine Frage gewesen, sondern eine Feststellung. Zweitens sei es ihm egal, wie das in Sachsen gehandhabt würde und drittens würde es hier nun mal im Sitzen praktiziert, das sei effizienter, als jedes Mal Matten auszurollen, er hätte schließlich auch einen engen Zeitplan. Die vorwitzige Sächsin Hildegard erstarrte in Demut und das depressive Kollektiv war froh geschwiegen zu haben.

Nun wurden wir aufgefordert auf unseren Stühlen eine bequeme Haltung einzunehmen, die Augen zu schließen und alles loszulassen, was uns bedrückt. Ich schloss die Augen und versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich an Positivem mit Autogenem Training in Verbindung brachte. Der Bariton psalmodierte seine Entspannungsformeln, ohne dass Bauch, Beine, Po warm und schwer wurden und mein Sonnengeflecht hatte sich, klug wie es war, schon vor zehn Minuten aus dem Staub gemacht. Mir blieb, das Beste aus der Situation zu machen. Ich wurde belohnt mit einem Hörspiel der besonderen Art. Da es Anfang Januar war, war es, der Jahreszeit entsprechend, lausig kalt und die Fenster folgerichtig geschlossen. Diese waren dreifach verglast und hielten die böse Welt und ihren Lärm vor uns verborgen; eine Störung unserer Versunkenheit wäre also allenfalls von einem hausinternen Feueralarm zu erwarten gewesen.

Links von mir ein stark übergewichtiger Mann in den Fünfzigern der schnaufend ein- und ausatmete. Die Fernsehsparte des NDR hatte mal eine Walrossdame, Antje, als Pausenfüller, die klang genauso. Mir gegenüber saß die soeben abgekanzelte Hildegard, irgendwo aus ihrer Richtung klangen leise wimmernde Atemgeräusche, ähnlich einem defekten Blasebalg. Auf dem Flur fröhliches Lachen. Dann verhalten schabende Laute. Nervöse Hände, die an, mit Jeanshosen bedeckten, Oberschenkeln gerieben wurden? Rechts von mir das typisch-peinliche Gluckern eines Magen-Darm-Traktes bei der Arbeit, was wiederum meinen Magen daran erinnerte, dass ich ihm aufgrund einer sehr frühen Hydro-Jet-Behandlung nur ein extrem kleines Frühstück zugestanden hatte. Ein tiefes, äußerst verärgertes Knurren gemahnte mich an vernachlässigte Fürsorgepflichten. Im hinteren Teil des Raumes kapitulierte ein Raucher vor seinem, seit einigen Minuten unterdrückten, Hustenreiz und schickte ca. drei Lucky Strikes auf die Reise. Zunehmendes Getrappel auf dem Flur wertete ich als Indiz dafür, dass es stark aufs Mittagessen zuging. Mein Magen übrigens auch, denn das Knurren wurde noch durchdringender. Eine junge Frau Anfang dreißig fand das offenbar amüsant und versuchte vergeblich ein Kichern zu unterdrücken.

Ob das den Ausschlag gegeben hat, weiß ich nicht, aber der Grausträhnige hielt es nun für geboten uns ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Beinahe klang es als wollte er sich selbst trösten, als er uns versicherte, dass man Autogenes Training nicht von jetzt auf gleich lernen könnte und wir alle noch einen weiten Weg vor uns hätten.

Oh ja, er auch.