Ich bin der Mann, der Benjamin Blümchen tötete – zweimal
Sommer 1999. Der feuerwehrrote Familienkombi ist gepackt, und wieder einmal ist es mir gelungen die Heckklappe ohne den Einsatz von schwerem Gerät zu schließen. Die Jungs vegetieren bereits seit einer halben Stunde in ihren Kindersitzen vor sich hin, aber los können wir noch nicht, denn die stets besorgte Physiotherapeutin, die mich durchs Lebens begleitet (nicht weil ich einer Dauerpflegefall wäre, sondern weil ich mit ihr verheiratet bin), sucht noch nach einer Patientenkarteikarte, zwecks Übergabe an eine Kollegin, die nur einen Stadtteil weiter wohnt. Der erfahrene Leser ahnt es bereits: Es ist Urlaubszeit. Urlaub ist die schönste Zeit des Jahres – jedenfalls sobald die Kinder aus dem Haus sind. Meine sind da noch weit von entfernt, und somit ist Urlaub lediglich der Tausch von Bürostress mit Reisestress.
Endlich wirft sich Petra auf den Beifahrersitz und schwerfällig setzt sich der hoffnungslos überladene Wagen in Bewegung, zwar noch nicht Richtung Autobahn, aber eindeutig weg von zu Haus. Angekommen bei ihrer Kollegin sprintet meine Frau durch den Vorgarten. „Nur 10 Minuten“, ruft sie mir zu und verschwindet im Haus.
„Wo geht Mama hin?“
„Zu ihrer Kollegin.“
„Warum?“
„Die müssen noch was besprechen.“
„Warum?“
„Damit die Kollegin weiß, was sie machen soll, bis Mama wieder da ist.“
„Fährt Mama weg?“
„Ja, in den Urlaub.“
„Und wir?“
„Wir kommen mit.“
„Wann?“
„Jetzt. Gleich. Wenn Mama wieder im Auto sitzt.“
„Wie lange noch?“
Zack! Das war‘s! Ganz kurz linste meine Erholung vorne über die Motorhaube und hat mir zugezwinkert. Aus. Vorbei. Ende. Wir sind noch nicht mal aus Bremen raus, da kommt die Frage, die vermutlich allen Eltern, egal wie geduldig sie sind, den Gedanken ins Bewusstsein treibt, das es bestimmt mildernde Umstände gibt, wenn man unter solchen Bedingungen die kleinen Psychoterroristen an der Autobahnraststätte „vergisst“. Das Problem war nur, ich war noch meilenweit von einem Rastplatz entfernt. Ebenfalls ganz weit vorne sind übrigens die Sätze „Ich muss mal“ und „Mir ist langweilig“. Aber das nur der Vollständigkeit halber.
10 Minuten sind rum.
„Mama hat gesagt, wir dürfen auf der Fahrt Benjamin Blümchen hören.“
Ich erwog ernsthaft, meine Frau an der besagten Autobahnraststätte ebenfalls zu vergessen.
„Aber erst, wenn wir auf der Autobahn sind und ein paar Kilometer hinter uns gebracht haben.“
„Wir wollen aber jetzt Kassette hören, Menno!“
„NOCH NICHT!“
15 Minuten.
„Uns ist langweilig!“
Meine Hände umklammern das Lenkrad, die Knöchel treten weiß hervor, aber ich schweige.
„Wann kommt Mama?“
„Bald.“
„Wann ist bald?“
„Gleich.“
„Ist gleich bald?“
„Was?“
„Ob gleich bald ist?“
„Ja.“
22 Minuten.
Warum leiert jetzt keines meiner Kinder „Ich muss mal“? Dann könnte ich es aus dem Kindersitz zerren und Petra auf den Hals hetzen. Aber nein, wir sind ja noch nicht auf der Autobahn. Wie konnte ich das vergessen: Kinder müssen nie aufs Klo, wenn genügend sanitäre Einrichtungen zur Verfügung sind, sondern immer nur dann, wenn der nächste Abort mindestens drei Tagesmärsche weit weg ist.
28 Minuten.
„Dürfen wir jetzt Benjamin Blümchen hören?“
„Nein. Ich sagte doch schon: Erst wenn wir auf der Autobahn sind. Ihr werdet es abwarten können!“
„Nein, können wir nicht.“
„Dann lernt es!“
„Benjamin, du lieber Elefant…, „ fängt Jasper an zu krakeelen, wird aber von seinem Bruder mit einem sopranösen „Töröööööö!“ unterbrochen.
Es pocht hinter Stirn und Schläfen, aber ich reiße mich zusammen. Weitere fünf Minuten vergehen, in denen eine Endlosschleife aus „Benjamin, du lieber Elefant und „Törööööö“ durch den Innenraum des Fahrzeugs peitscht.
Da ich mit der Stirn auf dem Lenkradkranz liege und immer wieder leicht den Kopf hebe, um ihn dann auf das Lenkrad zu schlagen, sehe ich nicht, dass Petra aus dem Haus tritt und fröhlich meinen Kindern zuwinkend, zum Auto kommt. Aber Jasper und Jonathan sehen es und begrüßen sie mit einem nicht schönen aber sehr lauten „Töröööö“. Ich schrecke hoch und sehe mich gehetzt um. Petra sitzt inzwischen neben mir, blickt mich, bzw. meine roten Striemen auf der Stirn prüfend an: „Ist alles ok?“ Ich spare mir die Antwort, denn die kommt von den elenden Verrätern auf den billigen Plätzen: „Papa hat uns nicht Benjamin Blümchen erlaubt.“
Ein vorwurfsvoller Blick trifft mich: „Ach, Thomas. Musste das jetzt sein? Manchmal frage ich mich, wer das Kind in diesem Auto ist.“ Ich fühle mich beschämt. Sie öffnet das Handschuhfach, nimmt eine Kinderkassette heraus, schiebt sie in den Kassettenschacht und drückt auf ‚Play‘. Die Eingangsmelodie erklingt, meine Kopfschmerzen nehmen rasant zu, aber ich hab’s im Griff. Bis das Lied zu Ende ist und in diesem krankhaft-fröhlichen Trompetenstoß endet.
Und hier ändert sich meine Wahrnehmung. Ich schalte in den Berserker-Modus: Meine Faust hämmert auf den Auswurfknopf und wie in Zeitlupe sehe ich die Kassette aus dem Schacht gleiten. Ich greife zu, mein Arm schwingt nach hinten. Mit einer Drehung des Handgelenkes schleudere ich den hellblauen Tonträger über die Köpfe meiner Söhne. Ich erwarte nicht wirklich, dass dies irgendetwas bewirkt, außer dass ich einen Streit mit meiner Frau vom Zaun breche. Aber dann sehe ich im Rückspiegel, dass die Kassette wie ein Frisbee genau durch den schmalen Spalt zwischen Gepäckoberkante und Autodach fliegt. Als sie aus meinem Blickfeld verschwindet, höre ich das Splittern von Plastik. Benjamin Blümchen ist mit einem letzten dissonanten Kreischen an der Heckscheibe verendet. Das nun folgende Schweigen dröhnt in meinen Ohren wie eine Kesselpauke.
„ICH-SAGTE-WENN-WIR-AUF-DER-AUTOBAHN-SIND-UND-EIN-PAAR-KILOMETER-ABGERISSEN-HABEN.“
Wenn Blicke töten könnten, wäre dies mein endgültiger Urlaub.
Dann straft mich meine Frau mit Nichtachtung.
Den Jungs bleibt das Heulen im Halse stecken.
Ich bin ein Mörder und ein schlechter Vater, habe aber meine Ruhe. Bis Hamburg.
Ohne ein weiteres Wort zückt Petra aus ihrer Handtasche eine brandneue, noch eingeblisterte Kinderkassette. Auferstanden aus Ruinen, treibt dieser demente Dickhäuter in Jeans, roter Jacke und roter Mütze sein Unwesen in meinem Auto. Ich ertrage es stoisch; kümmere mich um mein schlechtes Gewissen.
Ich habe mir all die Jahre danach ohne mit der Wimper zu zucken, jedwede Art von Kinder ergötzendem Schwachsinn angehört: U. a. Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg. Sogar Crossover-Folgen in denen Benjamin Blümchen auf dem Besen von Bibi Blocksberg reitet. Ja, das geht. Denn Bibi ist eine Hexe. Und ihr Besen heißt Kartoffelbrei. Da ist es doch logisch, dass ein ca. fünf-sechs Tonnen schwerer Elefantenbulle locker auf einem normalen Reisigbesen sitzen kann. Fünf – sechs Tonnen unbekleidet, die Klamotten gehen extra. Irgendwann hatte es sich dann erledigt und die langen Autofahrten hatten eine ganze andere Qualität. Alles war gut.
Herbst 2013. Petra und ich entrümpeln das Arbeitszimmer. Größere Renovierungs- und Umbaumaßnahmen stehen an und wir beginnen mit dem befreienden Wegschmeißen von Altlasten. Ich arbeite mich systematisch durch einen antiken Schrank. Im untersten Fach, ganz hinten in der Ecke blitzt es auf, als ich mit einer Lampe hineinleuchte. Ich schiebe meinen Oberkörper in den Schrank und fische einen glatten, knisternden, rechteckigen Gegenstand heraus. Auf meiner Handfläche ruht eine originalverpackte Kinderkassette aus der Reihe Benjamin Blümchen. Sofort ist alles wieder da. Ich erinnere mich. Aber ich sehe auch die Möglichkeit mich ein weiteres Mal von diesem nervtötenden Elefanten zu befreien. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Elefanten. Die Elefantenparade rund um Colonel Hati und seine Frau Winifred aus dem „Dschungelbuch“ ist ganz großes Kino, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber zu Herrn Blümchen habe ich einfach nie einen Draht gehabt.
In einer feierlichen, aber sehr kurzen, da nur aus mir bestehenden, Prozession trage ich die Kassette zur Mülltonne. Mit der linken Hand öffne ich den schwarzen Deckel. Die rechte Hand schließt sich um die Kassette. Der rechte Arm holt Schwung und kloppt Benjamin in die Tonne. Fasst erwarte ich ein letztes trotziges Törö, aber er schweigt.
Dieses Mal endgültig?
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