Straßenfest
Im Oktober 2000 zog ich mit meiner Familie in eine kleine, ruhige und überschaubare Reihenhaussiedlung am Stadtrand von Bremen. Unsere Jungs fingen gerade an zu begreifen, wie man kleinste Unaufmerksamkeiten der Eltern für das eigene, spontane Verschwinden nutzen konnte, mit dem Effekt, dass besagte Eltern wehklagend und zähneklappernd die nähere Umgebung trüffelschweinartig durchforsteten. Nach Rückkehr ins Basislager stellten wir dann jedes Mal fest, dass die elende Brut friedlich im Sandkasten saß, sich an Nacktschnecken, Asseln oder Regenwürmern labte bevor sie sich zum Nachtisch einen Sandkuchen backte. Runtergespült wurde das Ganze gerne mit Pfützenwasser, falls verfügbar. Die Regentonne war immer kindersicher verschlossen. Um das elterliche Kammerflimmern auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, zogen wir also aus der Innenstadt in ein kleines Häuschen im Grünen. Dort boten sich zwar noch viel bessere Möglichkeiten, das copperfieldmäßige Entfleuchen zu perfektionieren, aber da wir nun in einer Spielstraße wohnten, mussten meine Frau und ich zumindest nicht mehr fürchten, das die lieben Kleinen allzu plötzlich an Hauptverkehrswege und unter irgendwelche rücksichtslos und natürlich viel zu schnell dahin bretternde, P- oder LKW gerieten. Da außerdem jede Menge gleichgesinnte Eltern mit ihren Trabanten in dieser Straße lebten, konnte man einigermaßen sicher sein: irgendjemand hatte irgendeines der gerade abgängigen Kinder irgendwo friedlich in unmittelbarer Nähe eines moorigen Entwässerungsgrabens spielen sehen. Der selbst zusammengestellte Speiseplan der Kids wurde außerdem auf gesunde Weise ergänzt, durch am Wegesrand wachsende Kräuter.
Nun kann es gar nicht ausbleiben, dass sich in einem so geschlossen Quartier der Bekannten-, im Idealfall auch der Freundeskreis, erweitert. Zumal, wenn durch zu Hauf vorhandene, ungefähr gleichaltrige Sandkastenaufrührer, das Gesprächsthema schon vorher klar definiert ist. Alles in allem entwickelte sich das nachbarschaftliche Miteinander in eine für mich sehr erträgliche Richtung, da ich, Vollzeit arbeitend, am Abend nur die komprimierte Fassung der Begebenheiten des Tages von Petra serviert bekam. Aber kein Glück währt ewig und irgendwas ist ja immer. Jedenfalls bemerkte irgendjemand in der Nachbarschaft, dass unsere Siedlung, die nur eine einzige Straße umfasst, durch diverse Abzweigungen und Stichwege für Uneingeweihte jedoch manche Verwirrung bereithält, in Bälde zehn Jahre besteht. Das ist an und für sich nicht weiter bemerkenswert, hatten wir doch vorher in einem Haus gelebt, welches mit einem Baujahr von 1897 schon das hundertjährige Jubiläum hinter sich gebracht und somit zwei Weltkriege schadlos überstanden hatte. Meine Frau und ich konnten also ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Häuser unseres Straßenzuges noch ein paar Jahre überdauern würden; von einem dritten Weltkrieg gingen wir nicht aus. Leider lebten nicht alle Nachbarn so unbedarft in den Tag hinein wie wir, denn direkt im Anschluss an die oben erwähnte Erkenntnis fand ich einen Flyer im Briefkasten, der nicht nur darüber informierte, dass anlässlich des zehnjährigen Bestehens unserer so schönen Straße ein Straßenfest geplant und durchgeführt werden sollte -Freiwillige für das Planungskomitee wurden gesucht- sondern auch, dass so ein gemeinsames Fest eine prima Gelegenheit sei, später zugezogene Nachbarn besser in die Gemeinschaft zu integrieren und sich allgemein noch besser kennen zu lernen. Meine liebe Ehefrau frohlockte und stellte mich als Freiwilligen, sowohl für den Festausschuss, als auch gleich für einen noch zu benennenden Kinderbespassungsstand zur Verfügung. Pfiffig wie ich zuweilen sein kann, meldete ich mich als Betreuer für das Dosenwerfen, und wollte in Absprache mit meinem Nachbarn Peter auch gleich ein zweckgebundenes Bier trinken mit den anderen Väter aus dem Quartier organisieren. Dies jedoch wurde durch das perfide, intrigante Verhalten einiger Mütter verhindert, tauchten doch wie aus dem Nichts Dutzende leere Konservendosen auf.
Das Straßenfest kam, und wider Erwarten hatte ich meinen Spaß am Dosenwurfstand. Als das nachmittägliche Kinderprogramm beendet war, kamen diverse Grills zum Vorschein sowie Grillgut, Salate, Brot und Getränke aller Art. Man aß, trank und lachte zusammen, man bot sich das „Du“ an und das gegenseitige bessere Kennenlernen klappte dann auch ganz gut. Teilweise wohl zu gut, denn es bildeten sich hier und da ganz neue zwischenmenschliche, dafür ganz und gar außereheliche, Beziehungen was zwar so nicht im Ablaufplan stand, aber doch für eine gewisse Nachhaltigkeit bei den nachbarschaftlichen Nachrichtendiensten sorgte. Kurze Zeit später standen dann auch prompt zwei Häuser zum Verkauf. Aber das nur am Rande.
Es wurde spät bzw. früh und wir kamen beinahe einhellig zu der Erkenntnis, dass es sich nicht mehr lohnte ins Bett zu gehen. Stattdessen hatten sich einige Damen aus der Runde freiwillig zu melden, um Bratkartoffeln mit Speck, Zwiebeln und Spiegeleiern für alle zuzubereiten. In der Zwischenzeit sorgten wir übrigen dafür, dass das restliche Bier nicht in unbefugte Hände geriet. Am späten Vormittag, sah die Straße wieder aus wie gewöhnlich und man trennte sich in der Erkenntnis, dass man so etwas viel häufiger als nur alle zehn Jahre machen könnte.
Der nächste Tag sah mich nach Büroschluss in unserem Supermarkt, um noch schnell einzukaufen, in dem Bestreben die dezimierten Bestände an Kartoffeln, Speck, Zwiebeln und Eier wieder aufzufüllen, als mir eine offenbar gutgelaunte Frau, breit grinsend entgegen kam. Ich war mir sicher das Gesicht schon mal irgendwo gesehen zu haben, kam zwar nicht drauf, war mir aber sicher, dass es schon länger her war. Sie strahlte mich an: „Hallo Thomas! Geht’s wieder?“ Ich versuchte Zeit gewinnend zu lächeln und riss aus meiner mentalen Kommode eine Schublade nach der anderen, entleerte die Erinnerungen auf den Fußboden meines Kleinhirns, und wühlte in dem entstandenen Chaos nach Informationen. Vergebens. Das Strahlen auf ihrem Gesicht verkam zu einem trüben Glimmen und ein wenig indigniert half sie mir auf die Sprünge: „Wochenende? Straßenfest? Dieter und ich wohnen hinten am Wendeplatz.“
???
Wir müssen dringend mal wieder ein Straßenfest machen. Da lernt man die Nachbarn einfach besser kennen als nur so im Alltag
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