Gott ist nicht zuhause

Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen und dichter Nebel lag über dem Stadtteil. Sie hatte ihren Wagen auf dem Supermarktparkplatz abgestellt, da auf dem Gemeindeparkplatz nicht mal mehr Raum für ein Fahrrad sein würde. Außerdem war es schön die letzten 300 oder 400 Meter bis zur Kirche zu Fuß zu gehen. Früher gingen sie den Weg zu zweit. Früher.

Sie trat aus dem Gang zwischen Supermarkt und Damenboutique und stand auf dem Markplatz mit dem riesigen Weihnachtsbaum im Mittelpunkt. Der Schnee lag wie Puderzucker auf den Zweigen. Durch den Nebel schickte ihr die elektrische Lichterkette ein warmes Leuchten entgegen. Sie überquerte den Marktplatz und stellte wieder einmal zufrieden fest, dass der Stadtteil seinen dörflichen Charakter bewahrt hatte. Gedämpft durch Nebel und Schnee hörte sie die Kirchenglocken den nächsten Gottesdienst ankündigen. Rechter Hand den Kinderbuchladen, links die Zahnarztpraxis liegen lassend, schritt sie zügiger voran, um noch einen Sitzplatz in der Kirche zu ergattern. Am Heiligen Abend war die Kirche immer rappelvoll. Die Kalenderchristen kamen wie die Ratten aus ihren Löchern, um für die, ein Jahr lang gezahlte Kirchensteuer, einen Sitzplatz möglichst weit vorn zu beanspruchen. Vor allem diejenigen, deren Kinder beim Krippenspiel mitwirkten und daraus mit Videokameras ein mediales Großereignis  zelebrierten, das der Verwandtschaft zwischen Bescherung und Weihnachtsessen am heimischen Smart-TV aufgenötigt wurde. Als ob diese tumben Play-Station-Junkies sich mit ihrer Rolle als Hirte, Verkündigungsengel oder Maria soeben einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame erspielt hätten.

Sie schluckte ihren Zynismus hinunter, betrat den Kirchhof durch das schmiedeeiserne Tor und stellte sich ergeben in die Schlange der Wartenden. Warum sie nicht den Mitternachtsgottesdienst besuchte oder an einem der Weihnachtsfeiertage in die Kirche kam, konnte sie sich nicht erklären. Es bestand doch keine Notwendigkeit mehr, ausgerechnet am meist besuchten Gottesdienst teilzunehmen. Früher, als sie noch zu zweit kamen, war es etwas anderes. Es war sein Schönstes das Krippenspiel zu verfolgen, auch wenn es ihr ein ewiges Rätsel bleiben würde, warum. Aber ihm zuliebe hatte sie sich damals darauf eingelassen. Damals.

Wie üblich war die Heiligabendpredigt des Pastors gruselig und wie üblich hatte er es geschafft, seinen Unmut über die Gemeindemitglieder, die nur am Heiligen Abend den Weg in die Kirche fanden, in die Ansprache einfließen zu lassen. Das wiederum machte ihn etwas sympathischer. Sie verließ sie die Kirche noch vor dem „Oh, du fröhliche“, auch wie üblich, spendete für Brot für die Welt, und lenkte ihre Schritte um die Kirche herum auf den Friedhof. Falls überhaupt möglich war der Nebel noch dichter geworden. Keine fünf Meter weit konnte sie sehen, aber den Weg zu seinem Grab hätte sie auch mit geschlossen Augen gefunden. Aus einem Einkaufsbeutel nahm sie vorsichtig einen Rosenstrauß und legte ihn auf das flächig verteilte Tannengrün.

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Hand in Hand gingen sie über die Straße in Richtung Kirche. Es hatte geregnet und ein Temeratursturz von + 8° C auf – 10° C hatte die Straßen und Fußwege in Eisbahnen verwandelt. Lachend, sich gegenseitig stützend, tapsten und schlitterten sie  in Richtung Gottesdienst. Auf dem geschotterten Gehweg kamen sie etwas besser voran, als sie das tiefe Grollen eines großvolumigen Motors hörten, dass merkwürdigerweise direkt hinter ihnen erklang. Es blieb keine Chance. In der Kurve am Markplatz verlor der Fahrer der schwarzen Limousine auf der spiegelglatten Fahrbahn die Kontrolle über die zwei Tonnen Stahl und schoss geradewegs auf den Fußweg. Sie wurde zur Seite geschleudert und schlug mit der Stirn auf dem Boden auf. Als sie, benommen und verwirrt, den Blick hob, sah sie den Wagen im Vorgarten eines Hauses stehen, der gemauerte Zaunpfeiler war verschwunden. Sich am Fahrzeug entlang tastend, suchte sie sich einen Weg durch die Trümmer von Auto und Zaun. Der Fahrer kniete vor dem Wagen und redete mit verzweifelter, flehender Stimme auf Jemanden am Boden ein…

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Eine Hand legte sich auf ihren Arm und schickte Wärme durch den dicken Mantel. Erst als sich ihre Schultern senkten, wurde ihr bewusst wie verkrampft sie gewesen war. Langsam wendete sie ihr Gesicht nach links. Der Mann war alt, ungefähr einen halben Kopf größer als sie. Sein bartloses Gesicht lächelte sie freundlich an, und in seinen Augen ahnte sie Verständnis für… Alles.

„Ich konnte nicht bis zum Ende bleiben“, rechtfertigte sie sich mit einem Blick in Richtung Kirche, „Gott war nicht zuhause.“ Sie versuchte herausfordernd oder zumindest aufmüpfig zu blicken. Aber vor diesen Augen, die ihr bis in den hintersten Winkel ihres Herzens zu blicken schienen, war das merkwürdigerweise nicht möglich… oder nötig?

Seine Stimme schien sie eher zu spüren als zu hören: „Nein, wozu auch? Sein Sohn ist der eindeutig bessere Gastgeber. Gott geht lieber dahin, wo es wehtut.“ Noch immer die Hand auf ihrem Arm, wendete er sich dem Grab zu.

Sie spürte nicht, wie die Hand sich von ihrem Arm löste, sah nicht wie der Alte im Nebel verschwand.  Aber sie hörte das „Oh, du fröhliche“ aus der Kirche. Und eine Stimme konnte sie hören, die sie lange nicht mehr singen gehört hatte: Ihre eigene. In Schnee und Nebel. Mit tränennassem Gesicht. Und mit einem breiten Grinsen hörte sie, wie früher, sein ungeduldiges Schnauben, denn die Reihenfolge der Strophen konnte er sich ums Verrecken nicht merken.